Das Thema meiner Doktorarbeit (Dissertation) lautete:

„Der gezielte verhaltens- und physiotherapeutische Ansatz zur Therapie der überaktiven Blase (OAB)“

In Fachbüchern und den ärztlichen Leitlinien zur Therapie der überaktiven Blase wird die Physiotherapie verbunden mit Verhaltensänderungen (das sogenannte Blasentraining) den Betroffenen als erste Behandlungsoption empfohlen. Allerdings existierte bisher kein allgemein gültiges Therapieschema, das im physiotherapeutischen Alltag seine bewährte praktische Umsetzung findet, sondern nur Empfehlungen und Tipps, die jeder einzelne Physiotherapeut nach seinem eigenen Fortbildungs- und Erfahrungsstand in die therapeutische Arbeit einfließen lässt. Daher gab es bislang keine eindeutige Studienlage, die die Wirksamkeit einer physiotherapeutischen Behandlung objektiv belegt hätte. Diesen Mangel sollte die Studie, die die Universitätsfrauenklinik Tübingen, Fachbereich Urogynäkologie im Jahr 2009 gestartet hat, beheben. Ich hatte die Aufgabe, mit meiner langjährigen physiotherapeutischen Erfahrung, ein Therapiekonzept zu erstellen, dieses praktisch an ca. 40 Probandinnen zu testen, die gewonnenen Ergebnisse statistisch auszuwerten und in einer Doktorarbeit zusammenzufassen. Die Herausforderung hierbei war, die sehr individuellen Vorgehensweisen in der Physiotherapie in einem in sich schlüssigem Therapie-Modell zu verarbeiten, das idealerweise bei jedem Drangpatienten anwendbar ist. Nur mit einer solchen evidenzbasierten Vorgehensweise ist es möglich, dass die Physiotherapie neben den übrigen Therapieoptionen ihren berechtigten Stellenwert erlangen kann!

Von einer überaktiven Harnblase (im Sprachgebrauch sind auch die Begriffe Reizblase, nervöse Blase oder „Konfirmandenbläschen“ üblich) spricht man, wenn die Betroffenen folgenden Symptome zeigen:

  • es besteht ein verstärktes quälendes Dranggefühl;
  • auf dem Weg zur Toilette wird evtl. Urin verloren, sog. Last Minute- Symptomatik;
  • die Anzahl der Toilettengänge ist erhöht bei nicht lohnenden, sehr kleinen Harnmengen;
  • mehrmaliges nächtliches Wasserlassen (Nykturie);
  • häufig ist das Fassungsvermögen der Blase, die sog. Blasenkapazität eingeschränkt;
  • prophylaktisches zur Toilette gehen, z.B. bevor man das Haus verlässt;
  • zur Sicherheit existiert ein Toilettenplan im Kopf
  • die Lebensqualität und der Bewegungsspielraum der Patienten ist stark eingeschränkt;
  • nicht selten beherrscht die Blase den gesamten Tagesablauf;

In dem Pilotprojekt wurden folgende Zielgrößen betrachtet und ausgewertet:

  1.  die Verringerung der Anzahl der Toilettengänge, sowohl tagsüber, als auch nachts und auf 24 Stunden   betrachtet
  2.  Häufigkeit von Inkontinenzereignissen auf dem Weg zur Toilette
  3.  die Höhe des individuellen Leidensdrucks (ermittelt mit einer visuellen Analogskala)
  4. die Beschwerdestärke, ausgelöst durch die Blase
  5.  die Lebensqualität unter den Blasenbeschwerden

An der Studie nahmen 32 Frauen, die zwischen 22 – 78 Jahre alt waren, teil. Die beschriebene Symptomlänge erstreckte sich von 6 Monaten bis zu 22 Jahren. 21 Studienteilnehmerinnen hatten noch keine Therapieerfahrung, 11 waren dagegen z.T. mehrfach ärztlich vorbehandelt. Jede Studienprobandin durchlief mind. 6 identische Therapieeinheiten in 14-tägigem Abstand.

Nach Abschluß der Behandlungseinheiten verringerte sich die Anzahl der Toilettengänge auf 24 Stunden gesehen, im Schnitt um 23 %, das entsprach ca. 2,7 Gänge. Auch nachts mussten die Frauen ca. 1-mal weniger die Toilette aufsuchen. Der individuelle Leidensdruck verringerte sich von im Schnitt 8 (von optional 10) auf 4, d.h. um ca. 50 %. Auch die Fragebögen zur Beschwerdestärke und der Lebensqualität ergaben eine eindeutige Besserung. Ebenfalls kam es zu einer deutlichen Abnahme der Inkontinenzereignisse auf dem Weg zum WC.

Nach 6-8 Monaten wurden die Daten erneut erhoben, um zu überprüfen, ob der eingetretene Erfolg von Dauer, oder es wieder zu einer Zunahme der Beschwerden gekommen war. Erfreuerlicherweise blieben die Ergebnisse gleich, in einigen Punkten verbesserten sich die Werte sogar.

Aussagekraft der gewonnenen Ergebnisse im Vergleich mit den auf dem Markt befindlichen alternativen Therapieoptionen unter Berücksichtigung der Nebenwirkungen:

  • Medikamentös mit Anticholinergika oder dem selektiven Agonisten des ß-3-Adrenozeptors (Betmiga®): große Studien zeigten, dass mithilfe der Medikamente eine Reduktion der Toilettengänge nur um ca. 1,5 auf 24 Stunden zu Beobachten ist. Dieser Wert wird als klinisch relevant eingestuft. Allerdings lässt die Wirkung mit Absetzen der Medikamente wieder nach. Zudem müssen unangenehme Nebenwirkungen, wie lästige Mundtrockenheit, Darmträgheit, Müdigkeit, Konzentrationsschwächen und die Gefahr eines erhöhten Augeninnendruckes in Kauf genommen werden.
  • Die Injektion mit Onabotulinum-A-Toxin hat eine Wirkungsdauer von ca. 6-9 Monaten. Im Rahmen dieses Eingriffs kann es zu erhöhter Restharnbildung und einer erschwerten Blasenentleerung kommen.
  • Die Erlernen und anschließend konsequente  Durchführen einer Elektrostimulation wird nicht selten als aufwendig und unangenehm empfunden. Wichtig ist zudem die Einweisung durch eine speziell geschulte, vaginal arbeitende Physiotherapeutin.

Die Vorteile eines verhaltens- und physiotherapeutischen Trainings sind eine komplett nebenwirkungsfreie Möglichkeit der Therapie, die langfristig zu wirken scheint, da durch eine aktive andauernde Verhaltensänderung die negativen Verstärker, die die Betroffenen in ihrem Teufelskreis gefangen halten, abgebaut werden. Im Gegenteil, der eingetretene Erfolg beeinflusst die Gemütslage und die gefühlte Lebensqualität günstig. Auf diese Weise werden die bekannten langfistigen Folgeerscheinungen einer überaktiven Blase, wie soziale Isolation und Depression vorgebeugt und letztendlich vermieden.  Zudem ist es, verglichen mit den anderen Optionen eine sehr preiswerte Therapiealternative.

Zusammenfassend bestätigen die Ergebnisse dieser Studie die Empfehlungen der ärztlichen Leitlinien zur Behandlung der Überaktiven Blase, nach welchen den Patienten als erste Therapieoption eine Verhaltenstherapie in Verbindung mit Physiotherapie empfohlen werden sollte.